Diabulimie: „Du kannst dich so leicht umbringen“

Diabulimie: „Du kannst dich so leicht umbringen“

Jasmin war 13 Jahre alt, als bei ihr Diabetes Typ 1 diagnostiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war sie übergewichtig, was sich durch die Insulin-Therapie weiter verstärkte. „Irgendwann habe ich herausgefunden, dass wenn man das Insulin weglässt, ganz dünn wird. Und das war ein Fehler.“ Knapp drei Jahre später landete sie das erste Mal auf der Intensiv-Station. Ihre Essstörung “Diabulimie” war Auslöser für das Koma, in das sie fiel.

Ihre bewegende Geschichte und die fatalen Folgen ihrer Diabulimie erzählt die heute 27-Jährige hier.

Diabulimie – eine heimtückische Krankheit

Es war der 28. Mai 2008, an dem Jasmin und ihre Mutter vom Kinderarzt erfuhren, dass die damals 13-Jährige Diabetes Typ 1 hat. Ursprünglich wollte die Familie die Ursache für Jasmins Wadenkrämpfe und die ständige Müdigkeit rausfinden. Dass eine chronische Krankheit der Auslöser ist, hätten sie sich niemals träumen lassen. „Dein ganzes Leben ändert sich schlagartig“, erinnert sich die gelernte Physiotherapeutin an die ersten Wochen nach der Diagnose: Ein Aufenthalt in einer Kinderklinik, tausend Untersuchungen und Gespräche, lebenswichtige Informationen und ein auf den Kopf gestellter Tagesablauf. „Es war alles so aufregend. Zwei Wochen war ich in einer stationären Therapie mit zwei anderen Mädels und wir hatten den Spaß unseres Lebens.“ Die weitreichenden Folgen der tückischen Krankheit waren Jasmin zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. In dieser Zeit wurde ihr auch erklärt, wie sie sich spritzen muss und die richtige Menge an Insulin berechnet. Die Therapie zeigte Wirkung — endlich konnte sie wieder die Nächte durchschlafen.

“Das Ganze war ein Abenteuer für mich”

Als Jugendliche mit einer chronischen Krankheit ließen ihre Eltern ihr dennoch sehr viele Freiheiten: „Ich durfte als Jugendliche alles machen. Wenn ich ausgehen wollte, hat mich mein Papa gefahren und im Auto auf mich gewartet. Es gab kaum Grenzen.“ Doch der organisatorische Aufwand der Diabetes-Therapie nervte die 14-Jährige massiv. Und auch mit dem Gewicht hatte Jasmin immer noch Probleme. Schnell merkte sie, wenn sie viel trank, hatte sie weniger Hunger und verlor an Gewicht. Bis zu 15 Liter am Tag hatte die gebürtige Hessin zu sich genommen. Und die Pfunde purzelten. Denn weniger Nahrung hieß auch weniger spitzen. So fing Jasmin an, immer mehr zu schummeln und ihre Mitmenschen zu täuschen. Alle drei Monate wurde der Langzeitwert überprüft und Jasmin für ihre schlechten Werte gerügt. Doch das reichte nicht aus, um ihr zu verdeutlichen, wie gefährlich ihre Arglosigkeit war. „Das Ganze war immer ein Abenteuer für mich“, bestätigt sie ihr damaliges Verhalten. Und der Druck, den sie als Jugendliche empfand, wie sie von ihren Mitschülern wahrgenommen wurde, war größer und wichtiger, als ihre Therapie. „Komme ich gut an, finden sie mich toll?“, all diese Fragen stellte sich Jasmin ständig. Durch das Weglassen von Insulin konnte sie essen, was sie wollte und wurde immer dünner. Auch das bemerkten die Schulkameraden mit Begeisterung. Das stachelte die Jugendliche weiter an, ihre Diabetes-Therapie zu vernachlässigen. Mit fatalen Folgen.

Jasmin lebte ihr Leben als hätte sie keine chronische Krankheit, die untherapiert ernste Folgen anrichten konnte. Und so aß und trank sie das, worauf sie Lust hatte. Sie kontrollierte wenig ihren Blutzucker und führte nur selten Insulin hinzu. Das Ergebnis: Sie war endlich dünn.

Weniger Insulin, mehr Essen, weniger Gewicht.

Bis in einer Nacht der Krankenwagen kommen und Jasmin in ein Krankenhaus bringen musste.Massive Atemnot hatte die damals 16-Jährige ohnmächtig werden lassen.

„Eigentlich hätte ich nach Kassel ins Krankenhaus gesollt, doch das hätte ich nicht mehr lebend geschafft, so ernst stand es um mich.“ Aufgrund des fehlenden Insulins und der übermäßigen Kohlenhydrate in Jasmins Körper war ihr Blut völlig übersäuert — eine alarmierende Reaktion auf ihr Verhalten. Mehrere Tage musste Jasmin im Krankenhaus überwacht werden, ehe sie langsam wieder zu sich kam.

Dieses einschneidende Erlebnis war jedoch kein Grund für Jasmin, ihr Verhalten zu ändern. Es dauerte keine zwölf Monate, bis sie wieder in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste, zu sehr war Jasmin in der Essstörung gefangen. „Ich war so oft im Krankenhaus, dass ich es nicht mehr sagen kann, wie oft. Mehr als zehn Mal auf jeden Fall, vielleicht sogar mehr als 15 Mal.“

Essstörung gepaart mit Diabetestherapie

Ihre eigenen Ängste und Sorgen waren größer als ihr Verstand. Und so drangen auch ihre Eltern und ihre Ärzte nicht zu der Jugendlichen durch. Zwar vermutet Jasmin heute, dass ihre Ärztin ihr krankhaftes Verhalten bemerkt hatte, es aber nie als Diabulimie bezeichnet hatte. Und so war die Essstörung gepaart mit der Diabetestherapie pures Gift für ihren Körper. „Du denkst, dir geht es gut. Du verstehst nicht, was sie von dir wollen. Und auch meine Familie konnte mir die Augen nicht öffnen. Wenn es nicht von selbst Klick macht, wird es schwierig. Du kannst dich so leicht umbringen. Das ist mir heute bewusst. Damals leider nicht.“ 

Zum Glück gab es doch eine Sache, die Jasmin positiv beeinflussen konnte. Der Wunsch nach einer Insulinpumpe. „Auf einer Kur hatte ich von den Pumpen das erste Mal gehört und durfte auch eine Pumpe Probe tragen. Danach war mir klar: So eine will ich auch. Meine damalige Krankenkasse hatte mir aber keine genehmigt.“ Erst nach etlichen Monaten, die mit Warten und Widerspruch einlegen gefüllt waren, entschied Jasmin, die Krankenkasse zu wechseln. Und endlich hatte es geklappt, Jasmin bekam eine Insulinpumpe von Medtronic. Mit dieser Pumpe kamen mehr Freiheiten beim Essen hinzu, denn die verschiedenen Einstellungen der Pumpe erleichterten ihr die Insulintherapie erheblich. Endlich bekam ihr Körper regelmäßig das benötigte Insulin und die 21-Jährige bekam ihre ungesunde Lebensweise immer mehr unter Kontrolle. Bald stellte Jasmin fest: „Ich bin stärker als meine Essstörung. Meine Pumpe ist der Beweis dafür, dass ich es schaffen kann, wenn ich nur will.“

Minimed Medtronic Insulinpumpe

Die Folgen ihrer Diabulimie

Dennoch hat ihre Diabulimie bleibende körperliche Schäden hinterlassen. Neben einer Polyneuropatie, die sie nicht mehr ihre Füße spüren lässt, kommen Unverträglichkeiten, Rheuma und Wassereinlagerungen dazu. Gegen das Kribbeln in ihren Beinen, das tagesformabhängig auch zu starken Schmerzen führen kann, nahm sie eine Zeitlang Tabletten. Doch sie erkannte, dass sie nicht noch mehr Medikamente einnehmen wollte. So fand sie mit sportlicher Betätigung eine gesunde Alternative: Eine Stunde Kraftsport am Morgen, Spazieren gehen mit den Hunden, eine Runde auf dem Ergometer am Abend — Jasmin ist ständig in Bewegung. Nur so kann sie die Schmerzen in den Beinen ertragen.

Und dennoch bereut sie ihre Fehler nicht. „Es ist meine eigene Schuld, also muss ich auch mit den Konsequenzen leben. Und ich liebe mein Leben mit meinem Freund und meinen zwei Hunden. Es ist die Belohnung für all den Scheiß, den ich ertragen musste.“

Auf die Frage, was ihr damals geholfen hätte, keine Essstörung zu entwickeln und auf das Insulin zu verzichten, entgegnet die starke Blondine: „Eine klare Ansage, was mit meinem Körper passiert. Welche Folgeschäden entstehen können. Dann wäre es vielleicht nicht dazu gekommen.“

Heute lebt Jasmin zusammen mit ihrem Freund und ihren beiden Hunden in Nordessen. Auf Instagram betreibt sie den Account Typeoneblonde und berichtet dort über ihren Alltag mit Diabetes und Diabulimie.

 

 

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